Bayerische Geschichte(n), 9/2018: Die Gräfin und der Krieg

Liebe Leserin, lieber Leser,

Ein Bild aus glücklicheren Tagen (v.l.n.r.): Franziska zu Reventlow und Sohn Rolf mit dem befreundeten Maler Schünemann und Francisco Galán, dem Leiter des staatlichen Tiefseeforschungsinstituts 1912 auf Mallorca (Fotos: Andrea del Bondio)

im November 1914 kehrt die Schriftstellerin Franziska zu Reventlow, nach wie vor die Ikone der Schwabinger Boheme, nach München zurück und ist fassungslos: Die einst so freie, kosmopolitische Stadt ist nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs ganz vom preußischen Militarismus durchdrungen. Uniformen bestimmen das Straßenbild, ein seltsamer Hurra-Patriotismus vernebelt den Menschen die Sicht und die allerorten gepredigte Rückkehr zur „guten deutschen Schlichtheit“ nimmt fast schon komische Züge an: Man boykottiert die französische Mode und schafft die französischen Wörter auf allen Speisekarten ab, sodass die Reventlow extrem schlecht gekleideten Menschen dabei zusehen kann, wie sie sich beim Bestellen im Restaurant heillos verzetteln. Auch ihr jugendlicher Sohn Rolf lässt sich von der allgemeinen Kriegsbegeisterung mitreißen und ist zum großen Leid der Mutter zum Kampf an der Front bereit.

Rolf als Soldat in Mouzon in den Ardennen, 1917

Anfang 1916 wird Rolf schließlich einberufen. Nicht nur sein Kampfeswille hat längst nachgelassen – ganz München steht dem Krieg nun ablehnend gegenüber. Die Stadt leidet am Kriegsmangel, Lebensmittel sind stark rationiert und statt schwärmerischem Lob auf Hindenburg hört Franziska zu Reventlow nur mehr die Frage nach Brot. Der leere Magen treibt die Menschen auf die Straßen, doch Versammlungen oder gar Hunger-Aufstände werden von der Polizei sofort gewaltsam aufgelöst. Währenddessen kommt Rolf an der westlichen Kampflinie an und sieht sich dem Lotteriespiel um Leben und Tod ausgesetzt. Er erkennt das volle Ausmaß der Schrecken des Krieges und verbittert angesichts der Menschenverachtung, mit der Soldaten von ihren Vorgesetzten geschunden werden. Zudem tut sich der freiheitlich und im Glauben an eine offene Welt erzogene Rolf im Fronteinsatz mit der Unterscheidung in Freund und Feind zunehmend schwer.

Baron Rechenberg mit Rolf, den er gerne adoptieren wollte, ca. 1911

Seine Mutter – durch ihre zweite Heirat mit Baron Alexander von Rechenberg-Linten nun russische Staatsbürgerin mit Wohnsitz in der italienischsprachigen Schweiz – kämpft indessen mit der preußischen Bürokratie. Reisen über die deutsche Grenze werden für sie zu wahren Sisyphus-Projekten. Dabei ist jede Möglichkeit, ihren Sohn zu sehen, für Franziska zu Reventlow gleichzeitig pure Freude und schlimmste Qual, denn der Gedanke an den Tod Rolfs auf dem Schlachtfeld ist nie fern. Als ihm im Sommer 1917 überraschenderweise ein sechstägiger Heimaturlaub eingeräumt wird, nimmt ein abenteuerlicher Plan Form an: Rolf soll desertieren. Der Bodensee mit seinem Dreiländereck scheint der ideale Ort für das Vorhaben zu sein, man verabredet sich in Konstanz. Franziska zu Reventlow baut schnell gute Verbindungen zu Schmugglern auf, lässt sich sogar als vermeintliche Spionin anwerben und kundschaftet bei Nacht und Nebel das Gelände aus. Doch jeder Versuch schlägt fehl und die sechs Tage verstreichen nur zu schnell …

Lange war der sehr private Beitrag der Schriftstellerin Franziska zu Reventlow zum Ersten Weltkrieg verschollen, nun wird er zum ersten Mal veröffentlicht: In ihrem Essay „Die Kehrseite des deutschen Wunders“ nimmt sie kein Blatt vor den Mund, erzählt von preußischem Kriegswahn, von elenden Hungerzeiten in München, von militärischer Schikane, einem wirren Spitzelwesen und nicht zuletzt von der Rettung ihres Sohnes Rolf vor dem ganz und gar nicht „ehrenvollen Tod im Felde“. Ergänzt wird der unglaubliche Fund u. a. von einem Auszug aus den Erinnerungen Rolf Reventlows zu seinen Kriegserfahrungen. Ein Nachwort der Herausgeber Kristina Kargl und Waldemar Fromm erläutert den historischen Hintergrund und präsentiert die neuesten Erkenntnisse der Reventlow-Forschung.