Bayerische Geschichte(n), 20/2013: Zwei Überlebende

Judith Hirsch und ihr Freund Erwin Weil an Ostern 1942 (Foto: Judy Rosenberg)
Judith Hirsch und ihr Freund Erwin Weil an Ostern 1942 (Foto: Judy Rosenberg)

Liebe Leserin, liebe Leser,

die vierzehnjährige Judith Hirsch aus München wurde von den NS-Behörden als „Geltungsjüdin“ angesehen, da ihre Eltern in „Mischehe“ lebten. Das Ehepaar Hirsch versorgte als Hausmeister die Israelitische Privatklinik. Als das Krankenhaus im Frühsommer 1942 geschlossen wurde und die jüdischen Ärzte, Krankenschwestern und Patienten deportiert wurden, zog Judith Hirsch in das Lager Berg am Laim. Sie wurde zum Arbeitseinsatz in der Flachsröste Lohhof bei Unterschleißheim abkommandiert. Seit September 1941 war es Juden jedoch verboten, die innerstädtischen öffentlichen Verkehrsmittel zu benutzen; so musste Judith täglich große Wegstrecken zu Fuß bis zur nächsten Bahnstation zurücklegen, um nach Lohhof zu gelangen.

Die riesigen Flachsscheunen des Zwangsarbeitslagers Lohhof (Foto: Peter Vahlensieck)
Die riesigen Flachsscheunen des Zwangsarbeitslagers Lohhof (Foto: Peter Vahlensieck)

Mitte 1942 schrieb Judith an ihren Freund Erwin Weil: „In Lohhof ist es furchtbar. Ich bin jetzt außer meiner Arbeitszeit noch 5 – 6 Stunden unterwegs. Abends falle ich grad ins Bett, so müde bin ich.“ Die Fabrik in Lohhof lag etwa 20 Kilometer vom Lager in Berg am Laim entfernt. Die Flachsproduktion verlangte den Frauen dort außerdem harte körperliche Anstrengungen ab: Das Flachsstroh musste bei jedem Wetter sortiert, gebündelt, verladen, dann „geröstet“, getrocknet und gebrochen werden. Die tägliche Arbeitszeit betrug manchmal bis zu 12 Stunden.

Else Behrend-Rosenfeld leistete im Sommer 1941 Zwangsarbeit in Lohhof. (Foto: Privatarchiv Goldschagg)
Else Behrend-Rosenfeld leistete im Sommer 1941 Zwangsarbeit in Lohhof. (Foto: Privatarchiv Goldschagg)

Lohhof war jedoch nicht nur Fabrik, sondern auch Lager: Bis zu 80 Arbeiterinnen waren – anders als die aus München pendelnden Frauen wie Judith – ständig in den Baracken der Flachsröste untergebracht und hatten sich an einen rigiden Tagesablauf zu halten. Außerdem waren männliche französische Kriegsgefangene in Lohhof beschäftigt, die die großen Maschinen bedienten. Zunächst wurden vor allem junge Frauen und Mädchen mit jüdischem Hintergrund interniert, später auch ältere. Else Behrend-Rosenfeld, die in ihrem Tagebuch von ihrem Arbeitseinsatz berichtet, war schon 50 Jahre alt, als sie im Sommer 1941 in sengender Hitze auf den Lohhofer Feldern Flachs sortieren musste.

Für die Zwangsarbeiterinnen wurde die ländliche Idylle der Flachsröste zur „Hölle von Lohhof. (Foto: Peter Vahlensieck)
Für die Zwangsarbeiterinnen wurde die ländliche Idylle der Flachsröste zur „Hölle von Lohhof. (Foto: Peter Vahlensieck)

Else Behrend-Rosenfeld hatte zuvor für die Jüdische Gemeinde in München gearbeitet, wohin sie zurückkehrte, nachdem sie aus gesundheitlichen Gründen zwischenzeitlich von der Zwangsarbeit befreit wurde. Sie blieb Ansprechpartnerin für den jüdischen Lagerleiter Rolf Grabower und beriet ihn im Umgang mit den jungen Frauen. Alles sollte reibungslos funktionieren, um nicht das Missfallen der Kontrollbehörden zu erregen. Schikanen von Seiten der deutschen Angestellten und der unangemeldet erscheinenden NS-Kontrolltrupps blieben nicht aus; das Damoklesschwert der ständig drohenden Deportation hing über jeder Strafmaßnahme.

Judith Hirsch und Else Behrend-Rosenfeld waren zwei der wenigen Überlebenden der Flachsröste Lohhof. Die meisten Arbeiterinnen wurden nach Osten deportiert und ermordet. Der Münchner Historiker Maximilian Strnad nimmt sich in „Flachs für das Reich. Das Zwangsarbeitslager Flachsröste Lohhof“ ihrer fast vergessenen Geschichte an.