Bayerische Geschichte(n), 20/2019: Ein Frauenleben im München 1865 bis 1914

Liebe Leserin, lieber Leser,

in ihren Lebenserinnerungen erzählt Maria Walser, Erbin der „Walsermühle“ im Münchner Lehel, von Umwälzungen der wachsenden Metropole München wie auch von persönlichen Schicksalsschlägen und lässt Geschichte lebendig werden. „Das Tagebuch der Maria Walser“ zeigt ein faszinierendes, aus dem Alltagsleben genommenes Porträt einer Epoche einschneidender gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Veränderungen von der Prinzregentenzeit bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs.

Maria Walser war erst zwölf Jahre alt, als sie 1886 ihren Vater verlor, und damit Alleinerbin des riesigen Familienvermögens wurde. Doch die Zukunft der Mühle sollte nicht lange währen. 1901 musste sie den Hansahäusern weichen, in denen eine Elektrizitätsfabrik untergebracht wurde (Foto: Historischer Verein von Oberbayern).

München im Spannungsfeld zweier Jahrhunderte: Maria Walser erlebte unmittelbar die Zeit disruptiver Entwicklungen zwischen den Jahren 1865 und 1914 mit. Der Wandel im damaligen München zeigte sich beispielsweise an der Einführung des Telefons oder der elektrischen Beleuchtung. München sah sich in dieser Zeit auch mit einem unfassbaren Bevölkerungswachstum konfrontiert: Die Stadt wuchs von 100.000 auf gut 700.000 Einwohner an. Eloquent beschreibt Maria Walser die großen Zeitläufte, immer auch begleitet von privaten Erlebnissen.

 

Luftaufnahme des Lehels aus dem Heißluftballon von 1898. In der linken Hälfte auf halber Höhe die Gebäude der Walsermühle.(Foto: Stadtarchiv München)

Eindrucksvoll schildert Maria Walser zum Beispiel folgende Begebenheit: „ Am 12. November ereignete sich ein furchtbares Unglück. Stitzingers ältester Sohn, Otto, war schon seit längerer Zeit bei uns im ­Geschäfte tätig. Er hing mit unendlicher Liebe an meinen Eltern und war ob seines unverwüstlichen Humors überall beliebt. An diesem Tage wurde wegen einer kleinen Reparatur ein Teil des Sägewerks abgestellt. Als Otto nachsehen wollte, war das Schwungrad etwas in Bewegung. Im Vollgefühl seiner jungendlichen Kraft wollte er es aufhalten. Aber schon hatte es ihn erfaßt und den ganzen rechten Arm weggerissen.

 

Feuerwerkerei Heinrich Burg in der Münchner Balanstraße. Bei einer Explosion im Jahr 1911 brannte das Gebäude nicht nur teilweise ab, auch der Feuerwerker Josef Reiser wurde dabei „vollkommen zerrissen und Kopf und Arm mehrere Meter weit aus der Hütte geschleudert“ (Foto: Historischer Verein von Oberbayern).

Mit übermenschlicher Willenskraft machte Otto noch den weiten Weg, die ausgedehnten Sehnen am Boden nachziehend, von der Säge zur Küche, wo er sich meiner Mutter zeigte, die vor Schrecken umfiel, und dann über den Hof, bis in sein Schlafzimmer im Nebengebäude. Hier mit der linken Hand noch den Schlüssel aus der rechten Tasche ziehend, goß er sich sogar noch Wasser in ­seine Schüssel. Erst als er die Sehnen und Nervenstränge hineinlegte, verließ in das Bewußtsein. Der schnellgerufene Professor Nußbaum*, der erste Chirurg damaliger Zeit, übernahm die Behandlung, da Otto aber wegen Beinfraß und wildem Fleisch noch 2 x operiert werden mußte, brauchte die Hei­lung fast zwei Jahre. Das Schreiben mit der linken Hand erlernte er vollkommen.“