Bayerische Geschichte(n), 01/2018: Gesichter einer Stadt

Die kleine Ursula vor dem Eck des Orag-Hauses

Liebe Leserin, lieber Leser,

„Tracht und Heimat“ – der Name steht für das Traditionsgeschäft von Ursula Fröhmer am Oberanger. Seit mehr als einem Vierteljahrhundert verkauft sie hier, im sogenannten „Orag-Haus“, Trachten an ihre zahlreichen Stammkunden. Aber wie viele von ihnen wissen, wie untrennbar das Leben der Ladenbesitzerin mit dem vierstöckigen Haus verbunden ist? Das Gebäude mit der prächtigen Fassade wurde Ende des 19. Jahrhunderts im neubarocken Stil errichtet und diente ab 1929 der „Oberbayerischen Rohstoff- und Arbeitsgemeinschaft“, also der Genossenschaft der Schneidermeister, kurz „Orag“, als Verwaltungs- und Geschäftshaus. Einigen Schneidern, darunter Ursula Fröhmers Vater, wurden dazu Räume zum Wohnen und Arbeiten bereitgestellt. Aus dem Brautmodengeschäft der Eltern entwickelte Fröhmer, die schon immer von Volkskultur und Trachten fasziniert war, dann den heutigen Trachtenladen.

Eine der schönsten Fassaden Schwabings und der Stadt: das Jugendstilhaus in der Ainmillerstraße

Der nostalgische Blick in die Vergangenheit und der auf die aktive Gegenwart verbinden sich auch im Traditionsgeschäft von Hans Riess in der Ainmillerstraße 22. 1966 übernahm Riess nach seiner Ausbildung bei Rodenstock die Räume eines ehemaligen Kramerladens und eröffnete sein Optikergeschäft, das sich nach anfänglichen Schwierigkeiten – seine Mutter verteilte unermüdlich Karten und machte Werbung im Viertel – zu einer Schwabinger Institution entwickelte. Berühmtheiten wie Heinz Rühmann, Christine Kaufmann oder Helmut Fischer kauften hier ihre Brillen. Das Jugendstil-Gebäude, in dem der Optiker nun seit über 50 Jahren seinen Sitz hat, wird übrigens im Schwabinger Volksmund wegen seiner Fassade, die ein Figuren-Relief aus der Paradiesgeschichte schmückt, „Adam und Eva“-Haus genannt. Dichter, Denker und Künstler wie der Journalist und Kabarettist Willy Rath, Mitbegründer der „Elf Scharfrichter“, waren hier einst zu Hause.

Herbert Liebl an der Kraemer’schen Kunstmühle und am Wehr des Auer Mühlbachs

Fast sein halbes Leben – 41 Jahre lang – nannte Herbert Liebl eine Institution des Münchner Lebens, die Kraemer’schen Kunstmühle in Untergiesing, sein berufliches Zuhause. Liebl, der 1936 im Dreiburgenland auf die Welt kam, meldete sich im Jahr 1958 auf eine Stellenanzeige in der Müllerzeitung. Zunächst als einfacher Lagerarbeiter in der Kraemer’schen Kunstmühle angestellt, wendete sich schon nach einem Jahr das Blatt: Der Obermüller ging in Rente und Herbert Liebl trat in dessen Fußstapfen. Als frischgebackener Müller heiratete er seine Christine und zog mit ihr ins sogenannte „Schlössl“, das Haus gegenüber der traditionsreichen Getreidemühle, die in München eine der größten ihrer Art war. Seit ihrer Gründung im Jahr 1863 befand sie sich im Besitz der Familie Kraemer, die sie 1947 – nachdem sie bei einem Bombenangriff in Schutt und Asche gelegt wurde – wiederaufbaute und weiterbetrieb. Erst 2007 folgte die Mühle ihrem zur Jahrtausendwende in den Ruhestand gegangenen Obermüller Liebl nach und wird heute, nach umfangreichen Umbauarbeiten, als modernes Büro- und Gewerbegebäude genutzt.

Die Bäckerin aus Bogenhausen, der Gärtner aus Denning oder der Kalligraph aus Steinhausen – Menschen aus München, die fernab jeglicher Prominenz das eigentliche Herz der Stadt ausmachen. Sie alle hat der Journalist und Autor Florian Kinast seit Anfang 2015 für seine jeden Samstag in der „tz“ erscheinende Serie „Mei Münchner Leben“ getroffen. Entstanden sind dabei unaufdringliche und bewegende Porträts von Menschen, die sich nicht nur an Episoden aus ihrem eigenen Leben erinnern, sondern oft auch an ein vergangenes München, an Orte, Läden, Lokale, die über Jahrzehnte die Stadt und ihre Bewohner prägten, aber heute so nicht mehr existieren.